Toleranz – die Folge aus der Freiheit des Geistes

„Wenn Esel Götter hätten, so hätten sie Eselsohren“. Im ersten Moment eine vielleicht unverständliche, irritierende Aussage. Wer diese gemacht hat ist niemand geringerer, als der grosse griechische Philosoph Xenophanes (570–470 v. Chr.). Er wollte damit eines aufzeigen: Der griechische Göttermythos ist vielmehr eine Konstruktion aus menschlichen Erfahrungen mit der Welt als eine von den Göttern geschaffene Wirklichkeit. Xenophanes gilt deshalb als einer der ersten grossen Gotteskritiker. Jedoch wollte er keineswegs das Göttliche, oder diejenige Kraft, die hinter allem steht, abschaffen, vielmehr wollte er die Menschen von den eigens geschaffenen Abhängigkeiten befreien, wie sie der Mythos nur allzu oft bedingte. Dieses Durchdringen, was hinter den Dingen steht, hiess eben, mit Vernunft zur erkennen, dass Götterwelten von Menschen geschaffene Bilder sind. Und in der Folge: Diese Bilder können auch anders sein.

Für unsere Zeit entscheidend, letztlich aber geprägt u.a. vom griechischen Philosophen Xenophanes, stürzte zu Beginn des 17. Jahrhunderts René Descartes (1596–1650) die bisher geltende Philosophie um, weil er den methodologischen Zweifel einführte. Das hiess für ihn, alles bisherige Wissen kann in Zweifel gezogen werden. Er wird damit in den Augen vieler zum Begründer der neuzeitlichen Philosophie. Damit kehrt er die bisherigen geltenden Begründungen um und vollzieht die radikale Wende zum Subjekt und seiner Freiheit. Das Denken des Zweifels heisst letztendlich, alles Wissen bleibt fragwürdig und alles Wissen könne auch anders sein.

In dieser Denktradition hat schliesslich Karl Popper (1902–1994) seine Wissenschaftstheorie begründet. Auf der Grundlage des empirischen Denkens, das heisst im Sinne Descartes, dass alles Wissen fragwürdig und letztlich vorläufig ist, und wie Xenophanes es schon beschrieb, unser Wissen letztlich Vorstellungen von uns selbst sind, wird er zu einem der wichtigsten Wissenschaftstheoretiker. Aus dieser Denkstruktur ableitend beschreibt er, dass alles Wissen nur solange gilt, bis das Gegenteil bewiesen wird. Oder anders formuliert: Es stimmt solange, dass alle Schwäne weiss sind, bis jemand einen einzigen schwarzen entdeckt. Wissen bleibt also in der Wissenschaft immer vorläufig. Es könnte auch anders sein.

Diese Denkstruktur der Wissenschaft hat sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts mehr und mehr in unseren Alltag hineingewoben. Unser Bewusstsein ist von der Haltung geprägt, dass alles subjektiv und veränderbar ist. Nicht ohne Grund haben wir heute ein Menschenbild, das den Menschen als flexibel und dauernd veränderungsbedürftig beschreibt.

Aber gerade diese Denkstruktur ist es letztlich, welche die neuzeitliche Vorstellung von Toleranz begründet und die Haltung vieler Menschen ausmacht. Toleranz heisst letztendlich im Sinne von Karl Popper, „die notwendige Folge aus der Einsicht, dass es auch anders sein könnte“. Toleranz in diesem Sinn ist ein neuzeitlicher Begriff, nicht zu verwechseln mit dem Nebeneinander verschiedener Kulturen beispielsweise in der Antike. Toleranz bedeutet, dass der Mensch über eine Erkenntnis verfügt, dass alles auch anders sein könnte. Nicht nur im Wissen, sondern auch im Handeln.

Aber wo ist den Grenze der Toleranz? Die Grenze der Toleranz ist die Intoleranz. Denn Intoleranz geht davon aus, dass neben dem eigenen Wissen kein anderes richtig ist. Toleranz kann also Intoleranz nie tolerieren, sonst untergräbt sich die Toleranz selbst.

Die Einsicht, dass Wissen und Vorstellungen vorab eine Konstruktion des eigenen Ichs sind, wird damit zum Fundament des neuzeitlichen Toleranzbegriffes. Ohne die Freiheit des Geistes und der damit zusammenhängenden Fragwürdigkeit alles Wissens und aller Vorstellungen ist Toleranz nicht möglich.

Und gerade hier scheint sich ein riesiges kulturelles Problem zu eröffnen. Dieses Weltbild der Fragwürdigkeit und Vorläufigkeit alles Wissens kann durchaus als Leistung einer abendländischen philosophischen Tradition bezeichnet werden, welche nicht unbedingt in allen Kulturen und Denktraditionen so auftaucht.

In einer globalisierten Welt wird es deshalb zu einer der grössten Herausforderung zählen, einander in den eigenen Denkstrukturen zu verstehen. Aber letztlich besteht auch hier die Gefahr. Wenn bestimmte Denkstrukturen eben gerade nicht die Fragwürdigkeit und Vorläufigkeit alles Wissens akzeptieren können und der westliche Toleranzbegriff eben gerade nicht toleriert werden kann, bleibt es offen, ob Verständigung im letzten Überhaupt möglich wird.

Trotzdem bleibt es sinnvoll, sich für den oben beschriebenen Toleranzbegriff einzusetzen, denn damit ist die Gewähr gegeben, dass Fanatismus und Extremismus entlarvt werden und ein friedliches Zusammenleben möglich wird. Auch wenn vielleicht nicht alle Menschen dieselbe Denkstruktur haben, friedlich und gewaltfrei zusammenzuleben ist der Wunsch aller Menschen. Aber für die Beurteilung von Verhalten muss der oben beschriebene Toleranzbegriff zählen.

Ein Gedanke zu „Toleranz – die Folge aus der Freiheit des Geistes“

  1. Ich kann mich dem nur anschliessen, sehe ich doch Toleranz und Respekt Anderen (auch andersartigem Denken) gegenüber als eine der Hauptaufgaben der Menschheit. Ist doch gerade das Abhandensein der Toleranz meist die ursprüngliche Problematik aller Konflikte.
    Mit Toleranz einher geht auch immer, dass anderen auch etwas gegönnt werden muss und ich glaube hier liegt oft der «Hund begraben». Anderen etwas gönnen, was man meint (ebenfalls) sein Eigen nennen können zu müssen, ist für viele Menschen schwer, dabei sind nicht nur Güter gemeint, sondern natürlich auch ein Recht auf Leben an sich und Meinungsfreiheit und Glaubensfreiheit.
    Es gibt so viele verschiedene An- und Einsichten (was gerade die Stärke und Vielfältigkeit und damit die Kreativität der Menschheit ausmacht), dass es keine allgemeingültige Wahrheit geben kann. Dies verlangt aber vom Einzelnen Arbeit, weil er sich und sein Handeln quasi immer wieder neu beurteilen muss – keine leichte Aufgabe und keine, die Menschen immer gerne ausführen.
    Das Miteinander ist ein konstantes Austarieren der gegenseitigen Grenzen und verlangt stetige Kooperation von allen Seiten.

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